Dienstag, November 17, 2020

Beitrag zum Wörterbuch der Theaterpädagogik: Unsichtbares Theater

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Beitrag zum Wörterbuch Theaterpädagogik: Unsichtbares Theater

Als Unsichtbares Theater bezeichnen wir eine gründlich vorbereitete Szene, die einem Publikum vorgestellt wird, das nicht von der Inszenierung weiß, aber auf die erzeugte Wirklichkeit reagieren kann.

1. Geschichte

In der Entstehung der Methoden des Theater der Unterdrückten im oft aussichtslos erscheinenden Kampf gegen die von den US /CIA eingerichteten südamerikanischen Militärdiktaturen kamen Theaterleute zwischen Zensur und Einschüchterung oft an ihre Grenzen. In den intensiven Studien der Methoden um Bert Brecht sind sie wohl auch auf die Geschichte der kommunistischen Theatergruppen in der Weimarer Republik gestossen, die in ihrer Verfolgung schon zu unsichtbaren Methoden politischer Arbeit gegriffen haben.

Vor allem in Situationen der Zensur, die sogar altgriechische Autoren betreffen konnten, wurde vielen damaligen Schauspiel-Ensembles klar, dass sie im Theater nur noch sehr begrenzte Botschaften vermitteln konnten, was dann auch noch dazu führte, dass sich verängstigte Menschen auch nicht mehr in diese kritischen Arenen wagten.

"Wenn das Publikum nicht mehr zu uns kommen kann, müssen wir zu ihm gehen," berichtet Augusto Boal, der das Unsichtbares Theater als ein wichtiges Glied in der Entwicklung der Methodenreihe des Theater der Unterdrückten sieht, zu denen nach Statuen-Theater und Forum-Theater nun zuletzt auch das Legislative Theater gehören.

2. Systematik

Unsichtbares Theater liegt im Spannungsfeld einer publikumswirksamen Inszenierung und einer vorgestellten Realität, die von Aussenstehenden nicht als Theater erkannt wird: Der Anspruch der Freire'schen Bewusstseinsbildung beim Publikum soll durch das Erlebnis einer Szene ausgelöst werden, die in einer Alltagssituation als allgemeiner Vorfall erlebt wird:

- das Gespräch mit dem Gemüsehändler über die steigenden Preise führt zu einer öffentlichen Diskussion über Regierungen und Bereicherungen ...

- im Foyer des Opernhauses kippt ein Mann ohnmächtig um, seine Begleitung thematisiert Hunger, Armut und für wen die Oper eigentlich da ist ...

- ein Gast in einem feinen Restaurant bittet, die Rechnung an die Regierung zu schicken, die versprochen hat, dass sich jeder satt essen darf, der Streit wird lautstark ...

In den heutigen Anwendungs-Situationen, in denen Unterdrückungsmechanismen meist sehr viel verdeckter ablaufen, brauchen wir auch tiefgehende Vorbereitungs-Schritte, um zu den wirklichen Themen, Tabus, Mythen und Mechanismen auf die Spur zu kommen.

3. Methodik

Wie die meisten Szenen-Entwicklungen im Methodenkanon des Theater der Unterdrückten beginnt die Arbeit immer mit dem Entwurf aus den generativen Themen der Teilnehmenden, die an einem eigenen Anliegen aus einem Beispiel tatsächlich erlebter Unterdrückung / Druck ansetzen soll, da konstruierte und theoretisch nachgespielte Situationen meist nicht genügend Kraft und Treffsicherheit bekommen.

Der Einstieg zu Bildern von Druck kann dabei leicht mit Statuen-Theater gestaltet werden, mit Proben-Techniken kommen wir zu Forum-Szenen, um (interne) Varianten der Veränderung zu entwickeln und im Thema Sicherheit zu gewinnen.

Für eine unsichtbare Inszenierung bereiten wir dann eine Situation vor, die Aufsehen oder Reaktionen erregt, aber auch die Rollen von Passanten, die beobachten oder eingreifen, nötigenfalls Provokationen einbringen.

Einer Aufführung wird sicher eine Ortsbesichtigung vorausgehen, am besten zu einer sicher entsprechenden Zeit, um die Verhaltensweisen des Publikums zu beobachten. Entsprechend sind Auflösungen der "schlimmsten Art" zu entwerfen, wie z.B. auf Interventionen von Polizei und Selbstverteidigern zu reagieren ist, um die Situation für alle Beteiligten sicher aufzulösen, bis zum Rückweg zum Auswertungstreffen, in dem nicht nur die verschiedenen Erlebnisse und der allgemeine Erfolg ausgetauscht werden sollten, sondern auch ein kritischer Vergleich mit einer offenen Forum-Szene angebracht wäre.

4. Kontroversen

Das Ziel einer Inszenierung eines Unsichtbaren Theaters wird oft nicht klar umrissen, ist aber für fundierte Arbeit wichtig: Soll es nur Spass machen, was bei vielen die Nähe oder Assoziation mit "Vorsicht Kamera" auslöst, "leute verarschen", oder wollen wir andere damit eine Lehre erteilen; geht es darum, eigene Grenzen zu erproben, oder tatsächlich die Tiefe eines Themas, der Tabus und der möglichen Veränderung auszuloten, oder soll ein Gegner blossgestellt werden, statt ihn als Ansprechpartner in den Dialog zu holen?

Unter den KollegInnen gibt es verschiedene Haltungen, ob eine Auflösung der unsichtbaren Inszenierung mit den Passanten erfolgen sollte: Ich kenne, vor allem aus Situationen, die innerhalb einer Gruppe inszeniert waren, sehr erzürnte Kontroversen, die zwischen betrogenen Gefühlen und ungläubigem Staunen wenig Austausch ermöglichten, und auch die Argumentationen von Theologen, dass diese Methode unzulässig sei ...

Boal argumentierte dagegen immer, dass wir eine Wirklichkeit, die ja auch wirklich so an anderem Ort existiert, zu Zwecken der Bearbeitung und Erforschung der eigenen Anteile und Reaktionen abbilden, also nicht beliebig erfinden.

Ähnlich argumentiert die soziologische Aktionsforschung, können auch Arbeiten an tabuisierten Themen begründet werden: Zu untersuchen, wie Menschen - oft entgegen ihrer geäusserten Meinung - tatsächlich reagieren. In der theaterpädagogischen Aus- und Fortbildung steht für mich das besondere Erleben im Vordergrund, in dem die Beteiligten den Unterschied ihrer Vorstellung vom Verlauf und von den Reaktionen der Passanten mit der Situation ihrer eigenen Rolle und Spielsicherheit in Zusammenhang bringen: Die Verschiedenartigkeit der Wahrnehmung, aber auch die Situation, dass es gar nicht möglich ist, aus einer unsichtbaren Rolle zu fallen, ohne sich in verwirrende Widersprüche zu verwickeln ... ein Vorgriff und Beispiel zur Theorie von Dekonstruktion und Konstruktion unserer Wirklichkeiten, Identitäten, Wahrnehmungen.

5. Literatur

Ausführliches zum Theater der Unterdrückten auf http://www.joker-netz.de

http://wiki.eineweltnetz.org

Augusto Boal: - Theater der Unterdrückten, Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler SUHRKAMP-TB NF 361, Frankfurt 1989 (entspricht nicht der ausführlicheren portugiesischen und der englisch-sprachigen Ausgabe!)

- Der Regenbogen der Wünsche, Methoden aus Theater und Therapie, Kallmeyer 1999

- legislative theatre, using performance to make politics Routlegde London/New York 1998

Autonome A.F.R.I.K.A-Gruppe: Handbuch der Kommunikationsguerilla, Hamburg / Göttingen 1997

Fritz Letsch: Theater macht Politik, Die Methoden des Theater der Unterdrückten in der Bildungsarbeit, Gautinger Protokolle im Institut für Jugendarbeit des BJR, 

Helmut Wiegand: (Dissertation) Die Entwicklung des Theaters der Unterdrückten seit Beginn der achziger Jahre ibidem-Verlag Stuttgart

Fritz Letsch und Wolfgang Fänderl: Videofilm: "Theater, wie im richtigen Leben!" interkulturelles schul - theaterprojekt "miteinander reden lernen", Verleih und Bezug über das Inkomm, INKOMM Projektzentrum interkulturelle Kommunikation, Rupprechtstr. 25-27, 80636 München, tel. 089-121643-06,fax 089-121643-07 Euro 20 für Einrichtungen (mit Aufführungsrecht) und Euro 12,50 privat.

Bernd Ruping (Hrsg.): "Gebraucht das Theater, Die Vorschläge von Augusto Boal: Erfahrungen, Varianten, Kritik" bei: Theaterpädagogisches Zentrum, Lingen, Remscheid, 1991 (vergriffen)

Zeitschrift für befreiende Pädagogik der Paulo-Freire-Gesellschaft, Nr. 25/26: Szenen verändern, Joker aus Rio unterwegs; Heft 10: Es braucht Mut, glücklich zu sein: Anwendungen des Theater der Unterdrückten in versch. Ländern, (vergriffen, im Internet unter http://www.fritz.letsch.bei.t-online.de/vernderu.htm);

weitere Hinweise auf den Internet-Seiten www.joker-netz.de © Fritz Letsch 2002

Inzwischen gibt es noch ein Buch "Unsichtbares Theater" von Thorau, Henry

Unsichtbares Theater 2013  224 Seiten. Fadenheftung. Broschur ISBN 978-3-89581-276-7 für 19,90 € alexander-verlag.com/programm/titel/297-unsichtbares-theater.html

 

fritz letsch, theater gestalt pädagogik moderation

im KollegEnkreis entwicklungsdienst theater - methoden in der Paulo-Freire-Gesellschaft eV

und im ModeratorInnenkreis der Zukunftsbibliothek der Robert-Jungk-Stiftung Salzburg

Ausbildungsgruppe F2000 im Arbeitskreis Kritische Gestalttherapie - Gestaltleben –

lehrbeauftragter an der fachhochschule münchen, fachbereich 11 sozialwesen

Münchner Kommunikationsverein, Föss e.V. Selbsthilfezentrum München


zuerst weiß niemand etwas.

die schauspieler wissen nicht viel, 

aber der, der sie unterrichtet, darf gar nichts wissen, 

und muß erst während des unterrichts alles lernen 

über sich und seine kunst. 

das wird für sie eine entdeckung sein, 

und auch für ihn.          jean genet briefe an roger blin


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